Für meine Schwester – wir Nachkriegskinder…

Drei-Mädel-Haus

Zum 60. Geburtstag meiner jüngeren Schwester. Mai 2014

Liebes Geburtstagskind Loni, liebe Gäste,

gestern dachte ich an die heutige Feier und mir fiel auf, dass ich dich von allen hier am längsten kenne.

Als du vor 60 Jahren geboren wurdest, war ich gerade anderthalb Jahre alt. Ein Jahr später wurde ich – weil unser Vater in der Tuberkulose-Heilstätte war – zu seiner Tante und Cousine nach Berlin-Friedenau gegeben, dort war ich für fünf Jahre, während du in Zerbst deine Wurzeln geschlagen hast. An dich als Baby kann ich mich nicht erinnern. Als ich zur Einschulung auf Wunsch unseres Vaters zurück nach Zerbst kam, kannte ich unsere Eltern, Vera und dich so gut wie gar nicht. – Was sich von da an schlagartig ändern sollte..

Ich denke gerne an die gemeinsame Zeit mit dir zurück. Was haben wir beide alles zusammen erlebt und gemacht !! Manchmal war unsere Schwester Vera mit von der Partie. Doch sie ging – etwa sieben Jahre älter als wir – schon viel ihrer eigenen Wege.

Du und ich haben den Schulweg gemeinsam gemacht. Am Nachmittag erledigten wir die Schularbeiten. Ich hatte von Papa den Auftrag, dir alles zu erklären, wenn etwas unklar war. Daraus entstand wahrscheinlich später mein Wunsch, Lehrerin zu werden. D u dagegen warst mein Beistand und Vorbild in vielen praktischen Fragen in meinem „Neuland“ Zerbst.Wir waren „unzertrennlich“.

Wir bastelten, spielten mit Puppen, nähten, häkelten Puppenkleidchen und tobten. Die kleine Stube im Haus am Kleinen Klosterhof sah gegen Abend, wenn die Eltern nach Hause kamen – gelinde gesagt – aus wie nach einem Überfall.

Du und ich haben gerne zusammen akrobatische Kunststücke eingeübt, die wir später Mutti und Papa vorgeführt haben. Mit Begeisterung haben wir zusammen gesungen. Du die erste Stimme, ich die zweite.

Manchmal haben wir uns gestritten – und wieder vertragen. Papa meinte, ich solle mich auch mal wehren, wenn du oft die Oberhand behalten hattest. – Es war eine glückliche Zeit.

Liebe Loni,

Wir beide haben Katzen und Hunde lieb gehabt, ein Kälbchen an der Stadtmauer gehütet, die Kaninchen gefüttert. Die liebe graue Katze wollten wir im Puppenwagen umherfahren,- was sie nicht mochte, und den Wagen jedes Mal mit einem kühnem Sprung wieder verließ.

Wir haben beide zusammen Murmeln und Federball gespielt. Mit den anderen Kindern draußen spielten wir Verstecken, Haschen und Völkerball. Abends kehrten wir verstaubt, oft mit auf den Pflastersteinen aufgeschlagenen Knien, aber glücklich nach Hause zurück. Dann waren die Eltern da und es gab Abendbrot.

Im Winter rodelten wir an der Schlossfreiheit (wo schon Katharina die Große gespielt haben müsste…).-  Wenn ich nur an die steile Todesbahn dort mit dem Baum im Weg denke! Aber zum Glück ist alles gut gegangen. Blaue Flecke zählten nicht. Unsere eiskalten Hände und vor allem Füße haben wir dann beim Abendbrot zu Hause aufgewämt.

Bei Sommerhitze waren wir mit dem Fahrrad zum Schwimmbad unterwegs, gingen ins mittlere und große Becken, sprangen vom Rand und vom 3-Meter-Brett. Wir radelten zum Acker Richtung Luso. Auf der kleinen hochinteressanten Müllkippe dahinter entdeckten wir altes Geschirr, Besteck, Werkzeug und vieles andere. Den Duft der dort blühenden Kamille u.a. habe ich heute noch in der Nase.

Im Kirschbaum haben wir gesessen und „gefuttert“, haben Beeren gepflückt, Blumen gesät, Beete angelegt. Wir haben emsig geholfen Kartoffeln, Rüben und Kohlen ins Haus zu bringen, wenn eine Pferdefuhre gekommen war. – Zeitlos glücklich.

Auf einem Bild von damals sieht man uns oben auf dem Hundewagen auf einer Ladung Stroh oder Heu mit Feldblumen in der Hand.

Auf dem Spielplatz in der Puschkinallee haben wir mit Hingabe gespielt. Der Schwebebalken war „unserer“. Am Barren und am Reck vollbrachen wir Umschwünge bis uns schwindlig wurde.

Opa und Oma Schulze besuchten wir öfter beim „Schummerstündchen“. Oft erkundeten und untersuchten wir Opas großartige verstaubte alte Tischlerwerkstatt.

Wir durften die Eier direkt bei den Hühnern abholen und Opas prachtvolle Radieschen und Kohlrabi aus dem Garten essen. Habe seit dem keine vergleichbaren mehr gegessen.

Der gute alte Schäferhund Prinz hatte einmal den kleinen Küken in seiner Hundehütte Asyl gewährt und sich als Wächter davor gesetzt.- Opa konnte die Küken nicht finden und dachte, Prinz hätte die Küken gefressen oder verscheucht. Diese saßen aber warm und einträchtig in der Hundehütte. Prinz sass stolz davor.

Unser eigener Hund Tina war nicht ganz so ein Friedensengel. Mit ihm war es bedeutend lebhafter, er hat mich sogar einmal gebissen – eben ein Dobermann…mischling.

Liebe Loni,

Weißt du noch als wir die Katze mit ihren Jungen im Kleiderschrank gefunden hatten? Das war sehr aufregend, die Kleinen waren gerade geboren, hatten noch die Augen zu.

Du und ich haben gerne in der Speisekammer gestöbert und auf dem Dachboden alte Kleider entdeckt, mit denen wir uns kreativ  verkleidet haben. Einmal als Braut und Bräutigam. Du warst die Braut im Spitzenkleid und Schleier, ich der Bräutigam mit Frack und Zylinder. Davon gibt es ein Bild auf dem alten Simson-Moped von uns. Später haben wir die Kleider getauscht und hatten eine große dünne Braut (mich) und einen kleinen pummeligen Bräutigam (dich) – auch noch auf einem Foto zu bewundern. Never mind. Ein Riesenspaß!

Du und ich saßen sonntags in der Kirche mit den von Tante Lisa liebevoll genähten Kleidchen brav in der ersten Reihe – vorne links ! – und versuchten, unser Temperament und unser Mundwerk im Zaum zu halten. Der liebe alte Vorsteher Fröhlich hatte nach dem Gottesdienst immer ein gutes Wort für uns beide.

Du und ich waren ein paar Mal zusammen im Ferienlager. Einmal im Kamern, und in einer Tropfsteinhöhle im Harz.

Blödsinn haben wir jede Menge gemacht. Eine von uns beiden hatte immer eine Idee.

Ich erinnere mich wie wir uns eines Mittwoch abends als Mutti und Papa in der Kirche waren, in einem großen Wäschekorb zusammen „geringelt“ und zugedeckt haben. Die Eltern suchten aufgeregt lange und überall nach uns. Schließlich fanden sie uns schlafend im Wäschekorb.

Kannst du dich noch erinnern, wie wir im Sommer zum Sonnen auf das Pappdach geklettert sind und dort Bücher, Getränke, Sonnenmilch und natürlich die Katze mit oben hatten? Oder wie du und ich mit Cousin Bernd in den alten staubigen Speditionswagen im Hof bei ihm gespielt haben. Ich sage nur: Staublunge.

Es war eine Zeit voller Entdeckungen. Wir haben uns gut ergänzt.

Außerdem verdient Erwähnung: .. wir beide waren bei Tante Erikas Hochzeit die schönsten Blumenmädchen der Stadt Zerbst, wenn nicht gar aller Zeiten.

Liebe Loni,

Ich weiss auch noch, wie wir immer mal frisches Brot vom Bäcker in der Kranachstrasse holen durften. – Es war dermaßen knusprig !!! Auf dem kurzen Weg nach Hause landeten die besten Krüstchen schon in unserem Mund und Magen.

Als wir älter wurden, haben wir die Drogerie erkundet und Ei-Shampoo gekauft, Frisuren ausprobiert, leichtes Make-Up. Das große war nicht erwünscht, auch kein Lippenstift – weil Papa Angst hatte, wir sähen „wie Pfingstochsen“ aus.

Etwas später hast du dein Zimmer bei Opa und Oma im Haus bekommen. Und du warst sehr stolz darauf.

Ich glaube, d u  hattest die Strickmaschine gekauft, mit der wir viel Spaß und noch mehr Probleme hatten.

Da war ja noch die Zeit der Brieffreundschaften mit den Indern, als ich wochenlang Körbe voller Briefe bekam. Du hast von einem indischen Brieffreund nachher sogar ein Taj Mahal aus Elfenbein geschickt bekommen. (Obwohl ich ja die ganzen Briefe in Englisch geschrieben habe.;-)

Mir fällt gerade noch der Kontakt mit den russischen Kindern vom Spielplatz – und ihren Familien ein. Ira, Natascha, Vitja und die vielen anderen. Die kleinen gemütlichen gemeinsamen Feste. Und das abendliche Futterholen – 16 Familien sammelten Essensreste für Papas Ferkel.

Auf dem alten Schwarz-Weiss-Fernseher oben im Schlafzimmer, wo das Bild zu oft nach oben durchlief – haben wir sonnabends begeistert Hitparade und Raumpatrouille gesehen. 

Wir haben uns in unsere ersten Freunde verliebt und hatten eine gute Zeit.

Das war also ein kleiner Rückblick auf unsere gemeinsamen glücklichen Kinder- und Jugendjahre. Es gäbe noch viel zu berichten und zu ergänzen.

Liebe Loni,

nach der Schulzeit hast du deine Lehre zur Krankenschwester angetreten. Ich habe habe in Zerbst noch Abitur gemacht und bin dann zum Studium nach Berlin gegangen. – Du bist eine überaus tüchtige Krankenschwester geworden. Zuständig immer auch, wenn es um russische Patienten ging.

Du hast dann deinen Mann kennengelernt, ich meinen. Wir haben beide geheiratet und beide zwei wunderbare Kinder großziehen dürfen.

In den folgenden Jahren haben wir uns nicht aus den Augen verloren. Wir treffen uns bei Familienfesten Verlobungen, Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen, Trauerfeiern, seltener zu Ostern, Weihnachten und „normalen“ Geburtstagen. Hab Dank für die vielen Stunden und Tage der Gastfreundschaft in deinem Haus. 

Ein grosses Highlight noch – kurz nach dem Mauerfall: Die Schiffstour auf der Havel mit der ganzen grossen zusammengewürfelten Familie zum 80. Geburtstag unseres angeheirateten Onkels Karl, auf der wir beide mit unseren Männern und Kindern die Gesangseinlagen auf dem gemieteten Schiff gegeben haben.

Familiär haben wir in all den Jahren und Jahrzehnten beide viele Höhen und Tiefen erlebt und überstanden.

Nachdem ich das mit dem 60.Geburtstag nun vor anderthalb Jahren vorgemacht habe, 🙂 machst du es jetzt nach. -:)

Manchmal habe ich bedauert, keinen großen Bruder zu haben. Er hätte uns vielleicht hier und da beschützen können.

Aber. Wozu braucht man einen großen Bruder, wenn man eine starke Schwester wie dich hat? Du bist meine Super-Heldin und wir feiern heute deinen Geburtstag! Dazu von uns alles Liebe, Gottes reichen Segen und dass sich alle Deine verbliebenen Träume erfüllen mögen! Bleib gesund und so wie du bist, aber arbeite nicht mehr ganz so viel. –  Hoch das Glas! und Prosit.

Happy Birthday, liebe Schwester, ich bin froh, dass es Dich gibt

Deine Uschi

Anhang

Glückliche Tage und Jahre
Unser Opa Otto Schulze mit seiner zweiten Frau, „unserer“ lieben Oma (Die beiden waren verwitwet und hatten mit 70. nochmal geheiratet und sogar jeweils ihre zweite Silberhochzeit erlebt). Die Nachbarn fanden es „unmöglich“ mit Siebzig nochmal zu heiraten 🙂
Das sind meine Grosstante und Grosscousine väterlicherseits aus Berlin-Friedenau, die von 1954 bis 1959 meine Pflegeeltern waren. Sie – also Mutter und Tochter – hatten im Weltkrieg ihren Mann bzw. Vater und beide Söhne bzw. Brüder verloren. Da mein Vater durch den Krieg schwer an Tuberkulose erkrankt und in der Heilstätte war, boten sie an, meine Mutter zu entlasten, die trotz dreier Kinder den Lebensunterhalt verdienen musste. Kindergärten gab es nicht. 1959 sollte ich zurück nach Zerbst, da ich dort auf Wunsch meines Vaters die Schulzeit absolvieren sollte. Es war nicht so leicht, meine „richtigen“ Eltern erst mit Sieben kennenzulernen. Ich lernte vor allem erstmal meine Mutter näher kennen – eine tüchtige und couragierte Frau. Doch es fehlte einfach ein Stück der Bindung. Während die Bindung zu den vertrauten Tanten einfach abrupt abbrach. So ergaben sich einige Anfangsschwierigkeiten. Auch mit meinem Vater, der trotz Handycap von morgens bis abends für unser Wohlergehen arbeitete und in der Kirche ehrenamtlich  seelsorgerisch tätig war. Alles in allem habe ich bei ihnen eine gute Zeit gehabt. Von der Einschulung 1959 bis zum Mauerbau konnte ich meine Tanten noch in den Ferien besuchen, danach verschwanden sie praktisch aus meinem Leben. Durch das spätere Passierschein-Abkommen durfte ich sie dann je für ein/zwei Tag in Ostberlin treffen. Wir schrieben uns Briefe, sie schickten Pakete, Telefonieren war schwierig (mit Anmeldung und bei fremden Leuten, wir hatten keins).

 

19.10.1961 Das Foto stammt von meinem letzten Tag in Berlin-Friedenau bei den lieben Tanten. Am 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus – waren sie mit mir in den Ferien am Schliersee im Urlaub gewesen. Die Rückfahrt erfolgte auf Transitstrecke mit dem Bus. Ich konnte danach nicht zum Ferienende von Westberlin nach Zerbst zurückfahren. Meine Eltern mussten einen Antrag auf „Auslieferung“ ihrer Tochter stellen. Am 19.10.1961 wurde ich also am Bahnhof Friedrichstrasse von ihnen der Grenzpolizei übergeben, die mich auf der anderen Seite der Grenze meinem Vater zuführte. Das obige Fahrrad gaben mir die Lieben mit auf diesen Weg ohne Wiederkehr. Jedenfalls war diese damals nicht abzusehen. Mir wurde oft vorgehalten, dass ich so fröhlich war und beim Abschied nicht weinte. Ich begriff erst im Bahnhof Friedrichsstrasse so richtig – zwischen den Polizisten und beim Anblick meines Vaters -, dass irgendetwas anders war und brüllte durch das Treppenhaus des Bahnhofs: Tante Lisa!! Tante Ursel!!

 

×××××××

Am Tag nach dem Mauerfall im Novemher 1989 ging ich früher von der Arbeit nach Hause – mein damaliger Chef (Parteimitglied) fragte, ob ich es denn überhaupt noch aushielte – holte die Kinder (unterwegs stieß mein Mann zu uns) und wir zogen zu Fuss über die überfüllte Oberbaumbrücke in den anderen Teil der Stadt. Wie wir hinkamen, weiss ich nicht mehr. Jedenfalls klingelte ich nach 28 Jahren  wieder an der vertrauten Tür in Friedenau und wir lagen uns weinend in den Armen.

Aber hier würde jetzt ein neues Kapitel beginnen.